Kennt Ihr das auch?
"Ach, Sie singen? Das ist ja so gesund!"
Ja, total!
Alle singen! Ganze Krankenhäuser, Grundschulen, Kitas, ach was, die ganze Nation! Chortradition, und so! Ja, singen ist gesund! Viele Studien der letzten Jahre beweisen es. Und das ist wunderbar! Alle sollen singen!
Nur habe ich diesen Satz meistens gehört, wenn ich hustend im Behandlungszimmer einer Praxis saß, den Arzt in seiner gesamten Feinfühligkeit vor der triefenden Nase. Abwägend, ob es jetzt wohl besser sei, die Klappe zu halten, damit er zum Punkt kommen könne, also, zur Untersuchung oder ihm zu erklären, dass das für professionelle Sänger nicht gelten könne, löste der nächste Hustenanfall das Entscheidungsdilemma.
Man muss da unterscheiden! Singen kann eine große Ressource sein. Aber sobald man professionell singt und damit meine ich hauptberuflich, wird das Singen diese Ressource nicht mehr sein. Denn vom Singen hängt ab der Professionalisierung die Existenz ab.
Wenn ich Bücher und Artikel zum Thema Stimme für meine Masterarbeit sichte, geht der erste Blick immer sofort ins Literaturverzeichnis. Welche Artikel kommen vor? Sind die genannten Bücher überhaupt Fachbücher? Beim Thema 'Stimme' hat wirklich jeder seine eigene Wahrheit. Belegen tut fast niemand. Generalisieren dafür sehr gern!
Die ganze Singen = Wellbeing-Bewegung ist so wertvoll, aber sie schließt eben nicht mit ein, dass es nicht für alle gilt. Was ist mit den professionellen Sängern? Und was mit denen, die schon mehr als ihr halbes Leben nicht singen, weil ihnen irgendjemand einmal gesagt hat, sie könnten es nicht? Sie werden alle nicht ins Wellbeing-Boot geholt. Und wenn, sie könnten auch gar nicht mit hinein. Aber dann kann man auch nicht sagen, das Singen sei ja so gesund! Für manche ja, für manche manchmal und für manche gar nicht.
In meiner Masterarbeit untersuche ich einen musiktherapeutischen Weg, das Singen auch für professionelle Sänger wieder ressourcenorientiert erleben zu können und nicht immer nur leistungsorientiert. Es kann so nützlich sein, diese Balance zu finden. Und auch hier sind die Wege ganz individuell.
Gefunden zu diesem Thema habe ich eine schöne Studie von Maria Sandgren, die man hier genauer ansehen kann: "Does singing promote well-being?: An empirical study of professional and amateur singers during a singing lesson"
Die Studie untersucht 8 Amateursänger und 8 professionelle Sänger vor und nach ihrem Gesangunterricht. Beide Gruppen fühlen sich nach ihrem Unterricht energievoller und gleichzeitig entspannt. Für professionelle Sänger war der Unterricht körperlich anstrengend, für Amateur-Sänger nicht. Die professionellen Sänger hatten nach der Stunde eine erhöhte Konzentration eines Entzündungsstoffes im Blut, die Amateur-Sänger hatten sogar ein Abfallen dieses Stoffes während des Unterrichts. Beide Gruppen hatten durch das Singen eine Oxytocin-Ausschüttung (das Bindungshormon, auch gern Kuschelhormon genannt). Die Amateursänger berichteten, nach der Stunde fröhlich und beschwingt zu sein, die professionellen Sänger waren das nicht. Sie haben leistungsorientiert gearbeitet, während die Laiensänger entspannungsorientiert waren.
Also, Leute, singt! Singen ist gesund! Außer für Profis, aber die bekommen wenigstens etwas Kuschelhormon neben den Entzündungswerten! 😉 Und das mit der Leistungsorientierung - da kann man doch ansetzen und etwas verändern, vielleicht!
#123tage #euphorscht #stimmeeuphon #euphonikum
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Wiebke (Montag, 12 Oktober 2015 21:07)
Liebe Tina,
das ist ein sehr interessanter Artikel! Wie traurig, dass professionelles Singen in den meisten Fällen auf Dauer nicht gesund ist. Stimmt leider.
Ich glaube jedoch, dass regeneratives Singen auch im professionellen Bereich unbedingt möglich ist! Es erfordert allerdings sowohl eine ganz-körperlich ausbalancierte Gesangs-"Organik" (ich will lieber nicht Technik sagen), als auch eine ganz andere Art der mentalen Auseinandersetzung mit dem Sängerberuf. Ich denke, es wird auch deshalb mit so viel Druck leistungsorientiert gearbeitet, da Selbstliebe und Liebe zur Musik viel zu leicht vom äußeren Erfolg abhängig gemacht und daher leicht verwechselt wird. Wie schade, dass ich selbst so spät drauf gekommen bin. Es hätte noch mehr Spaß machen können!
Au ja, da können wir was verändern!
Liebe Grüße, Wiebke