Das Leben verändern

Ende des Monats Oktober, Beginn des Novembers an einem Wochenende. Perfekt für Halloween, auch für die Feiertagsfeierer, das sommerliche Wetter. Aber ein altes Gefühl mischt sich unter den schaurig-lustigen Anblick der ganzen Zombies und Hexen auf der Straße. Ein Gefühl, das jeder kennt, der mal an einem Theater gearbeitet hat. - 31.10. - Stichtag der Verlängerung. Kündigungsfrist. 

Das Leben verändern. Das habe ich vor zwei Jahren getan. Einem Bauchgefühl gefolgt. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, darüber zu schreiben.


Nach dem Normalvertrag Solo, dem gültigen Tarifvertrag am Theater, bekannt unter der Abkürzung NV-Solo, darf man seinen Vertrag bis zum 31.10. eines jeden Jahres zum Ende der Spielzeit, etwa 8-10 Monate später, kündigen. Meist viel spannender, darf der Arbeitgeber, der Intendant, eine Nichtverlängerung des Vertrages unter Einhaltung bestimmter Fristen ebenfalls zum Ende der Spielzeit aussprechen. Dies kommt wohl viel häufiger vor, als dass ein Ensemblemitglied seinen bestehenden Vertrag auf eigenen Wunsch nicht verlängert. 

 

Aber dies ist es, was ich vor gut 3 Jahren getan habe, gekündigt. 

 

 

„Wie bereits im persönlichen Gespräch [...] möchte ich hiermit meinen Dienstvertrag [...] fristgerecht nicht verlängern.“ Punkt.

 

Warum? Gefühlte 5000 Erklärungsversuche klangen immer ein bisschen anders, mal mehr Rechtfertigung, mal weniger. Befürchtete und oft in den Augen gelesene Reaktion: „Wie kann man nur?“

 

„So viele Sänger, die sich eine Solistenstelle an der Oper wünschen würden!“ „An der Staatsoper!“ „Renommiertes Haus“, und so weiter! „Glücklich sein!“  „Mit DEN Partien, kündigen?“ - Ja, Komponist, Elvira, Adalgisa, Ruggiero standen an. Ein Traum, natürlich! Aber… 

Dieses fette „Aber“ in meinem Bauch! 

 

Es stand für, „ich will mich verändern, mein Leben verändern, kreativ sein, meine Planung selbst in der Hand haben, für andere Menschen arbeiten, Sängern Support geben, einen neuartigen Support für Sänger entwickeln, wie im Sport. Möchte die Ressourcen der Menschen herausarbeiten, möchte, dass die Gesellschaft auf die Schwachen schaut und von ihnen lernt, möchte sie zusammenbringen. Schneller, höher, weiter - eine Farce, ein Hirngespinst! Wir müssen auf das schauen, was da ist. Wahrnehmung ist das Thema, Balance. Raum schaffen dafür. Ein Stimmzentrum gründen. Alles das darin vereinen - meine Vision! Klingt wirr, klingt konfus, aber in meinem Kopf ist das Konzept fertig.“ „3 Säulen“, erzähle ich, „das Stimmzentrum!“ „So baut es sich auf, das ist der Plan! Ich brauche Zeit dafür. Es soll sich langsam entwickeln, nicht so schnell, schnell. Ich muss mich weiterbilden. Menschen finden, die so denken, wie ich. Ein Team bilden. Das kann ich nicht nebenbei. Ich war 15 Jahre lang zu 150 % Sängerin, vorher weitere 7 Jahre zu 150 % von dem Weg besessen, Singen zu lernen, Hemmungen zu überwinden, an mir zu arbeiten.“ 

Jetzt habe ich das Gefühl, ich habe sehr viel gelernt in der ganzen Zeit, habe mich weiter entwickelt und kann das alles mitnehmen auf meinem Weg, meine Vision zu verwirklichen.

 

Aber die Gegenstimmen riefen: „Einfach wegschmeißen?“ „Einfach so?“

 

Dieses Wort „Wegschmeißen“, das ist mir oft begegnet. Wieso schmeißt man gleich etwas weg, nur, weil man sich für einen anderen Weg entscheidet? Wie hätte ich mich für einen anderen Weg entscheiden können, wenn ich den davor nicht lange genug gegangen wäre? Ihn ausgekundschaftet hätte, mich durch ihn persönlich entwickelt hätte? Um nach langer Zeit und der Erfahrung des ganzen vorigen Weges auf die Entscheidung zu kommen, scheinbar nicht mehr geradeaus zu gehen, sondern ein anderes Geradeaus zu wählen. Vielleicht einen Abzweig, vielleicht auch nicht. Das kommt auf die Perspektive an.

 

Mir persönlich habe ich den „Abzweig“ schon erlaubt und offen gehalten, bevor ich diesen ersten Weg überhaupt eingeschlagen habe. Ein persönliches Wort mit mir selbst, in dem ich mir versichert habe, immer zu prüfen, ob dies noch der richtige Weg sei, auf dem ich mich befinde. Und die Erlaubnis, sogar Pflicht, den Weg zu verlassen, sollte er sich nicht mehr für mich persönlich richtig anfühlen.

Allein die Umsetzung, die Prüfung kann eine lange Zeit in Anspruch nehmen, kann aufgeschoben werden, kann verdrängt werden. Stimmen von außen können viel lauter werden als die eigenen. Die Theaterwelt, ein Sog mit ungeahntem Ausmaß. Eine Welt des Ganz-oder-gar-nichts, eine Welt der Superlative. Eine Welt des Scheins, mit ihren passenden Filtern, die alles Unpassende ausmerzt. Spiel mit oder lass es bleiben! Zweifel haben hier wenig Platz!

 

In dem letzten Jahr nach meiner ausgesprochenen Kündigung habe ich allerdings von vielen Zweifeln oder besser Zweiflern erfahren. Einer, die freiwillig geht, kann man sagen, was man denkt. Viele Stimmen, die mir im persönlichen Gespräch offenbarten, sie könnten ja nichts anderes als zu singen. Viele Stimmen, die davon sprachen, noch so lange zu bleiben, bis der nächste Intendant sie nicht übernehmen würde oder der Sparzwang sie nach 14jähriger Mitgliedschaft im Ensemble kurz vor der Unkündbarkeit hinaus auf die Straße spucken würde. 

 

Was ist das? Menschen, die im Rampenlicht singend auf der Bühne stehen, sagen, sie können nichts anderes?

 

Wieviel Arbeit hat es gekostet, zu dieser Fertigkeit zu gelangen, einen Perfektionismus an den Tag zu legen und jeden Tag diszipliniert an sich zu arbeiten? Asketisch zu leben. Immer den Gedanken im Kopf, „kann ich mir erlauben, mit Freunden zu feiern? Kann ich dann morgen noch gut singen? Ein Glas Wein, nein, lieber Bier, das geht nicht so auf die Stimme!‟ Diese Menschen, die eine Partie nach der anderen studieren, auf Tschechisch, Russisch, Italienisch, Französisch, Englisch oder Deutsch, sagen, sie könnten nichts anderes und schauen dabei mit gekonntem Blick, der ausdrücken soll, sie seien tatsächlich für alles andere zu blöd? Die, die aufgrund ihres Berufs schon viele, viele Male umgezogen sind, in andere Städte, andere Länder, neue Struktur, Kulturen, Sprachen gelernt, sich immer wieder ein neues Netzwerk aufgebaut haben, ohne dass da ein Arbeitgeber die Container und Kisten bestellt, eine Wohnung gesucht, geschweige denn finanziell unterstützt hätte? Intelligente Menschen, die jeden Tag hart an sich arbeiten, in Proben, im Stimmcoaching, im Sprachcoaching, in musikalischen Proben, in szenischen Proben? Die in jedem beruflichen Moment ihres Lebens kritisiert werden und scheinbar sehr gut und produktiv damit umgehen können? Die sich alle paar Wochen auf ein neues Team einstellen können und eine Produktion nach der anderen erfolgreich zur Premiere bringen? Die, die in jeder Vorstellung ihr Bestes geben und bis zur Derniere ihre Partie jedes Mal von neuem frisch und lebendig gestalten? Die, die so flexibel auf alle Widrigkeiten, die der Theateralltag mit sich bringen kann, reagieren? Die, die ihr Leben für diesen Traum geben, Sänger zu sein? 

- Diese Menschen können meiner Meinung nach jeden, aber auch jeden Job dieser Welt in Nullkommanix aus- und erfüllen! Wenn sie denn nur wollen!

 

Mein Motto lautet seit meiner Kindheit „Man muss es nur wollen!“ Lange Zeit habe ich darüber nicht mehr nachgedacht, aber jetzt meine ich immer noch, es ist etwas Wahres daran. 

Man könnte auch fragen: „Was willst Du wirklich?“ 

 

Ich wollte diesen Beruf! Wollte mich singend ausdrücken. Wollte in Rollen schlüpfen, mich in ihnen frei fühlen. Kreativ sein. Mitdenken dürfen. 

Ein Professor hat mir nach meinem Diplomkonzert mit auf den Weg gegeben, nicht für alle mitzudenken, sondern mich auf mich zu beschränken. Das würde reichen. Das sei in diesem Job sinnvoll.  

Das war sicher ein weiser Rat, an den ich mich nur zu oft erinnert habe. Es ist ja nicht so, dass man allzu oft als Sänger die Chance bekommt, laut mitdenken zu dürfen. Das machen die Regisseure, die Dirigenten, die Intendanten. Die Sänger führen eher aus.

 

Wenn man aber nun die Veranlagung hat, mitzudenken? Wenn man nun weiter denkt und Dinge verändern möchte, die mehr betreffen als nur die eigene Person, dann ist man innerhalb eines Betriebes doch ziemlich eingeschränkt. Das ist in einer großen Firma nicht anders als am Theater.

Wenn man aber nun diese Veränderungen umsetzen möchte, muss man erstmal einen Schritt hinaus tun, um die Perspektive zu wechseln. Wie sieht das alles von außen aus? Wie sah es von innen aus? Was braucht es? Wo braucht es Veränderung? Wie und wo kann man ansetzen? 

Das hat mich alles sehr interessiert. Mindestens genauso sehr, wie singen und spielen. Aber wie kann ich meine Interessen verfolgen, wenn ich doch den ganzen Tag singe und spiele, meine ganze Energie in meine Arbeit als Sängerin geht? Ist da nicht mehr im Leben? Ist das Leben nicht mehr als das?

 

Ich kenne meine Perspektive, aber wie sieht es aus einem anderen Blickwinkel aus? Wie denken andere Sänger?

Wie lebt es sich so als Opernsänger? Warum wählt man diesen Beruf? 

Das sind Dinge, die mich heute sehr beschäftigen und die ich gerade beginne, zu erforschen.

Woher kommt dieser Drang, auf die Bühne zu müssen? Sich ausdrücken zu wollen? Singend ausdrücken zu wollen? Dieser Wunsch, an sich arbeiten zu wollen, bis zum Ende? 

Die meisten, die ich hörte, sagen nicht, ich möchte Ruhm und Ehre, möchte ein Star werden. Viele sind schon realistisch genug, wenn sie die Hochschule absolviert haben. Sie sagen eher, „ich möchte auf hohem Niveau Musik machen“. „Ich möchte mit sehr guten Dirigenten, Orchestern, Regisseuren zusammenarbeiten, möchte eine gute Karriere machen, möchte an den großen Häusern der Welt singen.“ Oder, wenn sie schon länger im Ensemble sind, „ich möchte Beruf und Privatleben zusammenbringen, möchte planen können, möchte gute Partien bekommen, möchte auf hohem Niveau musizieren“. 

Der Sänger ist ein kleines Rädchen in einer großen Mühle. Abends steht er aber alleine da und darf die Menschen unterhalten. Er muss möglichst angepasst sein, keine großen kreativen Wünsche haben, muss sich gut unterordnen können, aber abends zum Bühnentier mutieren. 

Jede Vorstellung besser als die letzte! Immer bei der Arbeit, immer dabei! Wie viele Partien pro Jahr, wie viele Vorstellungen? Jahr für Jahr. Produktion nach Produktion. Immer von Neuem. Neues Team, sich kennenlernen, produktiv ausführen, was andere sich ausdenken. Sich hingeben, ganz, dem Beruf, nein, der Berufung natürlich. Wir lieben, was wir tun! Wie sollte es anders sein? Premiere! Wir sind eine Familie! Und tschüß jetzt, morgen ist wieder Konzeptionsgespräch, das neue Team ist da. Wieder zurück auf Start.

 

„Ich suche mir lieber Möbel aus, die in jede Wohnung passen, so oft wie wir umziehen, die Stadt wechseln.“ „Kennst Du einen guten HNO-Arzt hier?“ „Ach, Du fährst immer nach München zum Phoniater? Nach Berlin?“ „Deine Gesanglehrerin ist in New York? Ach, Du hast bald mal wieder eine skype-lesson?“ „Nein, Kinder hast Du auch keine, aber einen Hund, ja, auch schön!“ „Der Nachbar hat mich neulich auf dem Fahrrad zur Oper fahren gesehen. Er wollte mir nicht glauben, dass ich nicht immer mit dem Taxi fahre, als Opernsängerin. Ja, immerhin an der Staatsoper, jaja!“ „Kannst Du zu Hause üben? Ich muss wieder umziehen, da lebt so eine Lehrerin eine Etage über mir. Die muss immer schlafen, wenn ich üben muss.“ „Machst Du Mittagsschlaf vor der Vorstellung? Dann kannst Du nicht mehr singen?“ „Ich probiere, mich mal ohne Milchprodukte zu ernähren. Dann schleimt die Stimme nicht mehr so zu.“ „Kennst Du Leute außerhalb des Theaters?“ „Und, was sind Deine nächsten Projekte? Salzburg, toll! Welche Agentur?“ „Oh, bist Du erkältet? Nein, es ist nur, ich darf nicht krank werden!“

 

Viele Zwänge, viel Sich-um-sich-selbst-Kümmern, viel Gemeinsamkeit und doch Einsamkeit. 

Da kratzt was im Hals! Oh, Panik! Schnell raus mit dem blauen Zeug zum Gurgeln, wo ist der Schal und das Nasenspülsalz? Heißer Tee mit Honig, Pariboy mit Sängerinhalat, Emser Salz und Akupunktur. Ernährung nach TCM, homöopathische Tröpfchen extra für den Kehlkopf -„kennst Du schon diese neuen Sängerpastillen?“ Stimmbandschmeichler! Schnell einen Notfalltermin beim HNO, „damit der mal drauf schaut“. Antibiotikum? „Ja, wenn’s gar nicht anders geht?“ Rutscht die Erkältung auf die Stimme oder hüpft sie durch, gleich auf die Bronchien. „Der Soundso, der lässt sich ja immer Cortison spritzen. Huaaaaahhh!!! Damit singt der aber wie ein junger Gott! Aber danach biste ´ne Woche platt.“ „Nee, ich glaube, die Erkältung bleibt diesmal in der Nase.“ „Also, klar kann ich singen! Die nächsten Vorstellungen, kein Problem!“ „Ja, doch, legt mal lieber jemanden auf Eis, vielleicht besser.“ „Nein, also ich bin doch nie krank! Die letzten, wart mal, 3-5 Jahre nix. Kann mich schon nicht mehr erinnern. Bin halt robust, gehe immer in die Sauna, weeßte. Musste noch nie, noch nie eine Vorstellung absagen. Klopf auf Holz, hahaha!“ „Kannst Du denn die Vorstellung am Mittwoch singen? Bist Du dann wieder fit? Prima!“  

 

Sicher, ich übertreibe maßlos, aber doch alles Sätze, die mal gedacht oder gesagt wurden und ja, es ist doch Wahres dran.

 

Schwäche zu zeigen ist für Sänger tabu! Dafür ist die Konkurrenz zu groß und außerdem kann man die Schwäche vor sich selbst nicht eingestehen. Wenn man das nämlich tun würde, geriete die Sängerwelt aus den Fugen. Dann könnte man sich wohlmöglich nicht mehr auf sich selbst verlassen. Man würde Angst bekommen und Angst ist kein guter Ratgeber, weder auf noch hinter der Bühne. Auf der Bühne - Blackout, hinter der Bühne - Krankheit. Wenn man die Angst allerdings verdrängt, sucht sie sich auch ihren Weg und macht  - krank! Langfristig, versteht sich. 

 

Meine Arbeit jetzt hat mit diesem Thema zu tun. Mit dem Thema, wie man als Sänger bewusst und gesund durch das Leben gehen kann. Gesundheitserhaltung. Keine Tabus aufbauen. Flexibel bleiben. Motiviert. Kreativ. Ehrlich zu sich selbst. Die Dinge, die der Beruf nicht bietet oder im Moment nicht bietet, ausgleichen zu können. Wo ist die Balance? Wie kann man sie finden? 

Es gibt viele Möglichkeiten, einen individuellen Weg zu finden. 

 

Das Stimmzentrum gibt es jetzt seit 8 Monaten - Euphonikum - Zentrum für Körper & Stimme. Berlin-Charlottenburg. Ein paar Meter entfernt vom Lietzensee. Für mich eine erfüllende Arbeit! Wie immer, Veränderung erlaubt! Der Weg ist das Ziel.

 

Die Zeiten scheinen sich zu ändern, langsam. 

Sänger fangen an, über Tabus zu reden. Plötzlich sind Stimmband-OPs, Burnouts, Schwächen ein Thema. Sänger sammeln sich in Gruppen und prangern Missstände an. Und nicht nur Finanzielle. Die Thematik geht weiter. Es geht auch um Gesundheit.

 

Ich wünsche mir, dass wir mehr und mehr Menschen werden, die Balance in die Welt bringen und sie ein bisschen menschlicher und kreativer machen! 

 

Bis bald,

 

Ihre/Eure

Tina Hörhold

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Lothar Odinius (Samstag, 17 Januar 2015 10:41)

    Liebe Tina,
    kurz vor meinem Facebookausstieg bin ich auf Dein "Lax-Vox-Video" und Deine
    Homepage gestoßen. Sehr interessant und: Klasse, dass Du Deiner inneren Stimme
    vertraut hast! Danke für Deine persönlichen Worte im Blog, die ich sehr inspirierend
    finde. Alles Gute weiterhin und vielleicht komme ich mal vorbei.
    Liebe Grüße - Lothar